Eileen, Matthias, Thomas und ich sitzen auf einer Bierbank in der Sonne, mitten auf dem Klimacamp in Pödelwitz im August 2019. Um uns herum herrscht ein buntes Getümmel von jungen Klimaaktivisti. Viele von ihnen sind in Kleingruppenaktionen, Blockaden oder anderen kreativen Formen des zivilen Ungehorsams aktiv. Die Dringlichkeit, die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen aufzuhalten, schleicht uns um die Knöchel, hier, im von der Abbaggerung bedrohten sächsischen Ort Pödelwitz. Die Menschen malen gerade Banner, planen die nächsten Aktionen, diskutieren über Privilegien und das neue Polizeigesetz. Wir vier reden über unsere persönliche Rolle in der Transformation. Wir vierleben in Gemeinschaften und sind auch Teil des Lenkungskreises von GEN Deutschland, dem deutschen Verein des weltweiten Ökodorfnetzwerks. Unser Leben ist mehr vom Aufbau neuer Strukturen geprägt als davon, Zerstörerisches aufzuhalten. Wie steht unser Alltag und unser Wirken in Bezug zum aktiven Widerstand?

Vernetzung! Vernetzung!?

Vernetzung! Es scheint mir, als würden alle gerade davon sprechen, als wäre es unser Transformations-Mantra. Aber müssen wir jetzt alles mit allem vernetzen? Was meint dies überhaupt und wann ist sie wirklich sinnvoll?

Es gibt unterschiedlichste Initiativen, die zwar auf eine wachstumsbefreite, gerechte Gesellschaft ausgerichtet sind aber häufig verschiedene Bilder davon, wie wir dorthin kommen. Und auch wie diese Gesellschaft dann konkret aussieht. Oft begegnet mir das Bild, wir müssten ein großes »Wandelbündnis« gründen, in dem wir dann alle Widersprüche auflösen und mit einem Wandeleinheitsbrei die Welt retten. Auch entsteht dabei die Vorstellung, dass wir uns von allem, was nicht exakt unseren politischen Positionen entspricht, abgrenzen müssen. Immer wieder bewege ich mich in diesen Spannungsfeldern zwischen Einheit und Abgrenzung. Dazwischen liegt für mich das Feld der Widersprüche, die wir halten können. Welche Organisationen laden wir zu einer Veranstaltung ein? Wer darf Teil z.B. des GEN-Netzwerks werden? Wen nehmen wir in unsere Gemeinschaft auf?

Diese Denkprozesse sind anstrengend, spannend und wichtig, denn es werden Werte und Grenzen verhandelt. An welchem Punkt unterstütze ich eine Bewegung oder Organisation, wann dulde ich sie, wann grenze ich mich von ihr ab oder arbeite gegen sie?

Ich beobachte allgemein eine größer werdende Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, Unterschiede auszuhalten und nicht auf der einen richtigen Lösung zu beharren. Ich sehe immer mehr Menschen, die morgens meditieren, mittags einen Kohlebagger blockieren und die es nicht mehr als Unmöglichkeit sehen, sich mit den eigenen Gefühlen zu beschäftigen und gleichzeitig systemkritisch zu sein. Mit den Klischees zu spielen, immer wieder zu staunen, wie vielfältig Menschen Wandel sehen, und die verschiedenen Perspektiven in Kontakt zu bringen. Das begeistert mich.

Wie Weihnachten mit der Familie

Ein paar Monate nach dem Klimacamp in Pödelwitz findet das Herbsttreffen des Vereins von GEN Deutschland statt. Es trägt zum ersten Mal ein Fokusthema, Klima. Und zum ersten Mal sind zu dem sonst immer sehr intimen Herbsttreffen Menschen eingeladen, die nicht in Gemeinschaften leben, sondern in verschiedenen Widerstandsbewegungen aktiv sind, wie z.B. bei Extinction Rebellion, Free The Soil oder Waldbesetzungen.

Von der Idee, den strukturellen Wandel (also durch uns als Ökodörf-Aufbauer*innen) mit Widerstandsbewegungen zu vernetzen, versprechen wir uns im Vorbereitungsteam viel. Wir stellen uns Synergieeffekte zwischen den Bewegungen vor. Ein Beispiel wäre das Projekt „Zähne Putzen“, in dem sich Aktivisti in Ökodörfern von Aktionen erholen können. Auch durchgemeinsame Außenwirkung, in der wir durch Widerstand gleichzeitig zu einem „Nein“ zu bestehenden Strukturen mitbestehenden Lösungen hinweisen können. Wir lassen uns auf unseren Vorstoß nicht entmutigen, auch als wir im Vorfeld des Treffens auf einigen Widerstand unter den Gemeinschaftsmenschen. Diese jungen Hüpfer sollen uns nun erklären, wie Aktivismus geht?«, »ist Widerstand leisten nicht wie Öl ins Feuer gießen?«; »Klima? Ich vermisse die intimen Räume, in denen wir uns mit uns beschäftigen!«… Aber als ich dann die freudigen und kritischen Mails lese, die als Antworten auf die Einladung kommen, spüre ich Aufregung und Neugier. Und ich fühle einen geistigen Muskel in mir arbeiten: den Widerspruchsmuskel. Diesen Muskel kenne ich schon. Er wird immer dann beansprucht, wenn ich mich in Spannungsfelder begebe, in Kontroversen und Widersprüchlichkeiten. Das passiert besonders auf Veranstaltungen, wo Menschen mit verschiedenen Perspektiven aufeinandertreffen, wie zum Beispiel dem »Move Utopia« oder auch an Weihnachten bei meiner Familie: »Wir müssen erst uns selbst heilen, um die Welt heilen zu können«, »Mach kaputt, was dich kaputt macht!«, »Also ich könnte mir schon vorstellen mal ein Elektroauto zu kaufen…«, »Diese gewaltbereiten Aktivisten machen doch alles nur noch schlimmer!«, »Wir müssen alle aussteigen und uns selbstversorgen!«, »Damit sich etwas ändert, müssen wir stören«…

Ich grübele noch bis zum Abend vor dem Netzwerktreffen über die Frage, wie Menschen aus Ökodörfern und „Widerständige“ eine verbindende Sprache finden können, wie Begegnung auf Augenhöhe geschehen kann und wie wir uns in Vielfalt gemeinsam ausrichten können.

Am nächsten Vormittag stehen dann Angehörige der beiden Seiten in drei Kreisen im Raum. In der Mitte der Runden liegen große Papierbögen mit den Worten „Widerstand leisten“ „Neue Strukturen aufbauen“ und „Bewusstseinswandel“. Der Dreiklang orientiert sich am Großer-Wandel-Modell der Tiefenökologin Joana Macy. Wir suchen in uns, wann wir diese Dimensionen des Wandels schon erleben konnten, suchen nach Bildern, Gefühlen, Bewegungen und Lauten. Nach einem Abtauchen in ein zunächst vielleicht ungewohntes Feld, kommen wir zusammen, um uns Geschichten des Wandels zu erzählen: Wann konnte ich in meinem Leben Wandel wirklich erleben und wie hat sich das angefühlt? Es werden Episoden von Blockaden, Nachbarschaftsfesten oder dem Bewusstwerden von Sexismus erzählt, wie Trauma geheilt oder eine Genossenschaft gegründet wurde. An diesem sonnigen Vormittag beim GEN-Treffen ist zu spüren: In uns allen gibt es alle Teile der Wandlungen, und es braucht alle gleichwertig und gleichzeitig, um Wandel möglich zu machen. Ist es also nicht eigentlich total einfach?

Einfache Antworten?

Nein, die gibt es nicht. Mein Widerspruchsmuskel hat regelmäßig Muskelkater, manchmal bin ich so müde davon, die Vielfalt zu halten, und mir ist so schwindelig von den vielen Perspektiven. Die Welt ist komplex, lebendig und jeden Tag neu. Ich mache mich immer wieder auf die Suche, schreite fragend voran auf einem offenen Weg. Manchmal scheint es mir wichtig, sich abzugrenzen, um von der Megamaschine nicht eingehegt zu werden oder sich von den eigenen Werten zu distanzieren. Ein anderes Mal führt der Weg mich raus aus meiner Komfortzone, und ich übe mich darin, andere Perspektiven zu verstehen. Immer wieder hebe ich den Blick auf die große, manchmal nebelige Landkarte des Wandels, um mich zu orientieren und zu verstehen, an welcher Stelle ich stehe. Dann besinne ich mich wieder auf meinen Fokus und auf den nächsten Schritt. Ja, es ist ein manchmal ziemlich anstrengender Weg, aber er fühlt sich lebendig an.

Der Raum ist jetzt still, alle schauen mit großen Augen auf uns. Ich sitze mit sechs Aktivisti und stelle ihnen Fragen. Es scheint mir, als würde es in der Luft knistern, wenn die Menschen anfangen, Geschichten vom Wald erzählen, vom Erschöpftsein und von der Angst vor Repression, von der Freude über eine geglückte Aktion und von der großen Verzweiflung, wenn das eigene Zuhause plötzlich von der Polizei geräumt wird. Jedes gesprochene Wort fühlt sich total wichtig an. Im Folgenden einige Stimmen aus dem Kreis:

Frida:

„Ich kam mit vielen Ideen und Visionen und mit viel Energie zum GEN-Treffen – und auch mit einem Hilferuf: Denn tatsächlich scheitern ganz viele Bewegungen, weil wir nicht wissen, wie wir gemeinsam miteinander leben und arbeiten können. Wie ihr das alle von euch Zuhause kennt! Ich war im Sommer in ganz vielen XR-Gruppen in Europa, und es war wunderbar zu sehen, dass es viele Menschen gibt, die motiviert sind, das System zu wandeln und sich selbst zu wandeln – aber es gab überall die gleichen Probleme! Und in Gemeinschaften sehe ich: Es gibt so viele Lösungen! Es läge ein großer Schatz darin, das Wissen und die in Gemeinschaften entwickelten Methoden auf unsere Bewegungen zu übertragen. Diese Bewegungen bilden sich als Gemeinschaften eines anderen Typs, da sie viel flexibler und fluider sind. Das wäre mir eine Herzensangelegenheit!“

Elias:

„Als Aktivist bist du permanent mit Ungerechtigkeit konfrontiert, aber ich sehe, dass wir kollektiv nicht gut mit dieser herausfordernden Situation umgehen. Das tut mir total weh! Leute brennen sich aus, weil wir nicht für Strukturen sorgen, die uns auffangen könnten. Wir sind alle gleich ausgelaugt, und keiner kann die oder den anderen halten. Die tägliche Anspannung ist groß: Ich muss etwa Sicherheitsvorkehrungen treffen, damit ich nicht Mails an irgendwelche Leute schicke, die dann mit meinem richtigen Namen in Verbindung gebracht werden könnten. So ein Quatsch, den ich eigentlich überhaupt nicht machen will. Und Sachen verschweigen zu müssen: Nicht irgendwo hingehen zu können und zu sagen: „Ey, es gab diese Aktion, und wir haben das und das gemacht, und es geht mir schlecht damit.“ Sondern ich darf das niemandem erzählen – das ist so richtig ernüchternd!

Richtig heftig ist es natürlich zu sehen, wenn Leute sterben. Vor ungefähr drei Wochen war der Jahrestag von Steffen Mai, der im Wald gestorben ist, weil die Bullen da reingegangen sind. Der war ein Freund von mir. Nicht zuletzt, weil ich merke, dass wir nicht die Strukturen haben oder ich nicht die Strukturen habe, die mich damit auffangen können, bin ich hier auf dem Treffen.“

Ronja:

„Ich war bei einer Waldbesetzung in Frankreich. Irgendwann wurde der geräumt. Vom einen Tag auf den anderen war unsere Struktur weg. Die Kontakte, die wir geknüpft hatten, waren auch weg. Einige Menschen saßen im Gefängnis. Wir hatten erst mal keinen Ort, wo wir uns sammeln konnten, wo wir über unsere Erlebnisse sprechen konnten. Letztendlich haben wir es in kleinen Gruppen irgendwie geschafft uns auszutauschen, und das hat total geholfen. Ich habe zum Beispiel gesehen, wie Freunde von mir von Polizisten zusammengeschlagen wurden, und das hat mich extrem wütend gemacht. Und um diese Wut nicht in was Destruktives gegen die Polizei zu verwandeln, sondern sie konstruktiv weiterzunutzen, war es für mich total wichtig, mich mit anderen auszutauschen.“

Alle im Raum beim Treffen in der Gemeinschaft in Steyerberg sind ganz wach und hören zu. Es geht nicht darum, eine Form des Aktivismus zu heroisieren; es geht auch nicht darum zu vergleichen, wer wirksamer oder wer erschöpfter ist und wer mehr Erholung verdient hat. Hier sprechen Menschen aus verschiedenen Feldern des Wandels und sie sprechen ganz als sie selbst von ihrem Erleben, ihren Sorgen und Freuden. Nach dem Gesprochenem regnet es berührte Resonanz.

In diesem Moment können wir die Widersprüche halten.

Autorin: Luisa Kleine

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