Autor*in: Thomas Meier, Stefanie Raysz
Das „Talvolk“ im Ilmtal macht sich auf. Einheimische und Zugezogene, die Lust darauf haben, ihre Region zu gestalten, zusammen über Neues nachzudenken und sich aktiv in ihr Dorfbild einzubringen, bringen seit einiger Zeit Schwung in die Landbewegung und Regionalentwicklung des Tals mit neun Dörfern. Es gibt bereits Projekte und Arbeitsgemeinschaften zu würdevollem Altern im Dorf, zum Widerstand gegen den 5G-Ausbau, zur Obstbaukultur u.a. Geplant ist die Gründung einer Bürger*innengenossenschaft, welche ein Dach sein wird für Dorfläden, gemeinsam finanzierte Photovoltaikanlagen und Mehrgenerationenhöfe. Ganz praktisch vor Ort gibt es inzwischen auch eine Solawi (Solidarische Landwirtschaft), die für frisches Gemüse auf den Tellern des benachbarten Kinderheims und weiteren Haushalten aus dem Tal sorgt. Die aus Sicht der Städter*innen bisweilen „öde Dorfwelt“ belebt sich im Weimarer Land mit Kulturlandschaftswegen und Mitfahrbänken, einem beliebten monatlichen Dorfkino und gemeinschaftlichen Obstpressaktionen.
Das lebendige Projekt steht auf soliden Beinen und erhält vielfältige Unterstützung – etwa als gefördertes Projekt des »Neulandgewinner«-Programms der Robert Bosch Stiftung oder des Thüringer Landesprogramms für Solidarisches Zusammenleben. Der Initiative ist es wichtig, dass die ethische, politische und persönliche Vielfalt in allen Projekten und Abstimmungen, Treffen und Lösungen präsent sein darf. Die hier aktiven Menschen sind überparteilich und weltoffen. Diese integrierende Haltung ist attraktiv und trifft den Nerv der Zeit, viele sind involviert und tragen den Gedanken der Wiederbelebung regionaler Wirtschaftskreisläufe und die Regeneration der Lebensgrundlagen zum Wohl aller weiter. Heute, zwei Jahre nach Projektstart, strahlt ihre Arbeit über die Dörfergrenzen in eine größere Region hinein. So hat sich inzwischen ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Forschungsvorhaben „Klimaschutzregion Ilmtal“ entwickelt, an welchem sich drei Thüringer Universitäten, zwei Landkreise, die Stadt Weimar, Regionalverantwortliche des LEADER-Programms, bürgerschaftliche Initiativen wie etwa Transition-Town Weimar, die Gemeinwohl-Regionalgruppe Thüringen, das Nachhaltigkeitszentrum Thüringen sowie innovative Wirtschaftsunternehmen, wie die Energiegenossenschaft Ilmtal oder die Erzeuger- Verbraucher-Gemeinschaft Weimar beteiligen.
Die Lücke füllen: Eine neue Schule
Klingt bisher gut – was gefehlt hat, war eine Schule, und an dieser arbeitet seit 1,5 Jahren eine weitere Arbeitsgemeinschaft Talvolk e. V. – eine Gründungsinitiative aus Eltern, Lehrer*innen und Unterstützer*innen der Region. Im besten Fall wird die Freie Talschule Tonndorf ab Sommer 2021 erste Schüler*innen aus der Region aufnehmen können. Als Gemeinschaftsschule mit zehn Jahrgängen wird die Schule die einzige im weiten Umkreis sein und es den Kindern ermöglichen, wieder zu Fuß oder per Fahrrad zur Schule kommen zu können. Geplant ist der Schulstart nächstes Jahr mit 20 Kindern im Grundschulbereich. Jedes Jahr sollen ca. zehn Schüler*innen dazukommen. Letztendlich können 100 kleine und mittelgroße Menschen bis zum Realschulabschluss hier ein Bildungsdach über den Kopf bekommen. Als Schulstandort sollen Räume des Schullandheims in Tonndorf für die Schule angemietet und dessen Kapazitäten mit Jurten und Pavillons erweitert werden. Auf lange Sicht ist eine Erweiterung nicht nur mit Werkstätten vorgesehen, sondern auch der Bau eines neuen Schulgebäudes sowie – in Nachbarschaft – einer vom Landkreis geplanten Mehrzweckhalle für sportliche Betätigungen und kulturelle Veranstaltungen.
Eine Pädagogik der Verwurzelung in der Heimat
Prinzipiell verfolgt diese Schulgründung das Konzept eines Lernnetzwerkes, das den Standort des Schullandheims als Ausgangs- und Konzentrationspunkt sieht, aber vielfältige Lernorte einbezieht – in der Natur, in den Dörfern des Tals, in Kooperation mit Handwerks- und Landwirtschaftsbetrieben sowie vorhandenen Bildungseinrichtungen wie Museen oder der Lebensgemeinschaft Schloss Tonndorf.
Von Lehrer*innen und Eltern gleichermaßen erarbeitet, sind die vier Leitlinien dieses talumspannenden Lernnetzwerks Ziel und Weg zugleich und umfassen
- das Lernen im realen Leben
- die Unterstützung von Selbstbestimmung und Mitbestimmung
- die gemeinsame Ausrichtung auf das Gemeinwohl der Schule und der Umgebung
- das Erlernen von Wissen und Fähigkeiten für ein zukunftsfähiges, nachhaltiges Leben.
Wichtig ist den Initiator*innen, dass die Kinder ihre Kindheit und Jugend „vor Ort“ im Tal verbringen können. Auf kurzen Wegen bietet dieser Lernort jungen Menschen – aber auch ihren Eltern und Unterstützer*innen – die Chance auf dorfübergreifende Freundschaften und Verwurzelung in der heimatlichen Region. Denn die Menschen der Taldörfer sind herzlich eingeladen, ja gebraucht, sich an diesem lebensnahen, neuen Bildungsplatz zu beteiligen. So sind beispielsweise Imker*innen, Architekt*innen, Baumschulgärtnern*innen, Sozialarbeiter*innen, Handwerker*innen, Hebammen und Forstwirte wichtige Ansprechpartner*innen für die Lernerfahrungen der Kinder und Jugendlichen. Sie bereichern den Schultag mit Projektwochen, Praktika, Workshops oder Begleitung von Schulausflügen. Aus eigener Motivation heraus, ohne Angst und Druck sowie im Vertrauen auf ihre eigene Entwicklungsgeschwindigkeit, erleben die Kinder einen sinnstiftenden Lernalltag mit praktischen, lebendigen Erfahrungen. Schule findet nicht mehr nur im Klassenzimmer statt sondern z. B. beim Brotbacken im Gemeindehaus, beim Gärtnern in der Solidarischen Landwirtschaft, im Theater, beim Tinyhausbau in der örtlichen Zimmerei, im Yogastudio oder bei der Unterstützung älterer Menschen im Dorf. Die Natur ist dabei immer wesentlicher Bestandteil der „Räumlichkeiten“ und gesunde Ökologie ein Orientierungswert. So sollen der Besuch und Erkundungen im Wald zum täglichen Ablauf im Schulgeschehen gehören – bei jedem Wetter. Stadtexkursionen, Wildniscamps und Auslandsaustausche vervollständigen das Bild des ganzheitlichen Schullebens und ergänzen das Angebot vor Ort. Mehr und mehr erfahren und erleben die heranwachsenden Kinder so ihren Lebensraum und lernen, ihn nachhaltig und mit dem tiefen Wissen um ökologische, soziale, kulturelle und ökonomische Aufgaben für die Welt zu gestalten, Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen und dabei das Wohl aller im Blick zu behalten. Die Schule will Chancen und Grenzen der politischen und gesellschaftlichen Mitgestaltung erkunden helfen und ermutigen, sich in unsere Demokratie einzubringen. So werden die Lernbegleiter*innen hier diese Selbstbestimmung als innere Haltung unterstützen und Räume kreieren für Selbstwahrnehmung, gute Kommunikation und Möglichkeiten der Mitbestimmung und gemeinsamen Entscheidungsfindung. Das Konzept der Gründer*inneninitiative wird aktuell mit dem Thüringer Bildungsministerium abgestimmt.
Kontakt: www.talvolk.de und www.freie-talschule-tonndorf.de