Autorin: Kira Petersen (mit Zitaten von Lea, Jona und Christian)

Über die Orientierungswerkstätten und die Intention für diesen Sommer

Die Orientierungswerkstätten (OW) der Gemeinschaft Schloss Tempelhof bieten jungen Menschen zwischen 18-29 Jahren die Möglichkeit, auf Zeit zusammen als Gemeinschaft zu leben und dabei der Suche nach ihrer Vision für die Welt von morgen und ihren eigenen Platz darin nachzugehen. Sie werden dort von Menschen aus der Gemeinschaft begleitet, lernen Methoden der Gemeinschaftsbildung kennen und erproben dabei in verschiedenen Settings das Abenteuer, sich tief und authentisch miteinander auszutauschen und zu verbinden sowie gemeinsam in konkreten Bauvorhaben zu wirken. Als Entwicklungsteam haben wir uns vorgenommen, den jungen Menschen die Ausgestaltung ihrer längerfristigen Projekte nicht vorzugeben, sondern sie experimentell gemeinsam mit ihnen entwickeln zu wollen. Dieses Jahr ging es uns darum, eine Infrastruktur mit Übernachtungsmöglichkeiten, Versorgungseinheiten und Gruppenraum auf den Wiesen der Gemeinschaft zu schaffen und Erfahrungen mit verschiedenen Angeboten zu sammeln.

Gesagt, getan: Blickt man heute in die Auen nördlich des Ökodorfes, entdeckt man dort ein buntes, unkonventionell mit Weiden und Geäst eingefasstes kleines Sommerdorf für junge Menschen mit Bauwagen, Jurten, einer Außenküche, Feuerstelle und Zelten (ohne Strom oder fließend Wasser). Seit Juni wohnen in unterschiedlicher Zusammensetzung zwischen acht und 17 junge Erwachsene in einer eigenen kleinen Gemeinschaft.

Was motiviert junge Menschen hierher zu kommen? Sie sind bewegt von der Sehnsucht nach einer besseren Welt, nach einem anderen Umgang miteinander und einem für sie stimmigen Weg, in dieser Welt wirksam zu werden. Die Zitate von zwei Teilnehmenden spiegeln wieder, was solche „Orientierungsräume“ für sie bedeuten können:

Lea: „Als ich Anfang des Jahres am Tempelhof war, habe ich begonnen, für den Platz zu träumen. Wenn ich träume, dann sehe ich, wie dort ein Freiraum entsteht, an dem wesentliche Fragen unserer Zeit nicht nur theoretisch gestellt, sondern auch praktisch gelebt werden. Fragen, die mich als jungen Menschen heute tief bewegen – die Fragen danach, wie wir auf eine Art miteinander und mit der Erde leben können, die das Leben fördert und nicht zerstört. Wie wir einander in Verbindung und Vertrauen darin unterstützen können, ganz in unsere Lebendigkeit, die Sehnsucht des Lebens nach sich selbst, hineinzuwachsen. Wie wir Verbundenheit mit dem Leben entwickeln können, die aus sich heraus radikal – da tief forschend – lebensbejahend ist und darin auch Mut hat, kreativ widerständig gegen Lebensverneinendes zu sein.
Ich suche Lernräume, die dem Beforschen des Lebendigen gewidmet sind, und Menschen, mit denen ich mich in meinem Fragen verbinden kann. Für beides meine ich am Tempelhof satten Boden zum Landen finden zu können. Ich bin gespannt, was aus diesem Boden wachsen kann und wird!“

Christian über seine Intention für die drei Monate: „Ich möchte den Mut haben zu fühlen, was in mir ist und das anzunehmen statt zu bekämpfen. Ich möchte Unsicherheit spüren, ohne zu flüchten. Ich möchte auf meinem Teppich bleiben und merken, wenn ich es nicht bin. Ich möchte mich mit meinen Süchten auseinandersetzen. Ich möchte in einem liebevollen, wohlwollenden, wertschätzenden Umgang mit meinen Mitmenschen sein. Ich möchte andere Menschen wirklich sehen. Ich möchte selbst gesehen werden. Ich möchte Liebe spüren, für mich, für andere, für die Welt. Ich möchte aussprechen, was in mir ist. Ich möchte Ausdruck finden. Ich möchte meine Stimme finden.“

Besondere Herausforderungen

Für dieses Jahr waren sieben Module geplant, allerdings mussten die Organisator*innen unter Corona-Bedingungen im ersten Halbjahr immer wieder Einheiten verschieben und absagen. Durch personelle Veränderungen im Team und in der Bekanntmachung des Programms und der Veranstaltungen, waren die Veranstalter*innen „mit angezogener Handbremse“ unterwegs. Doch hinter jeder Aufgabe steckt eine Chance: Eine Konsequenz der Planungsturbulenzen war, dass wir das von uns ursprünglich geplante Programm für das Modul der dreimonatigen Lebensschule aufgegeben und mehr Verantwortung für die Ausgestaltung des Sommers in die Hände der Teilnehmenden gegeben haben.
Eine weitere Herausforderung war der über viele Wochen nasse und kalte Sommer. Bevor wirklich der Traum vom Draußenleben real werden konnte, mussten die „OWler*innen“ als Erstes Plattformen und Stege auf den tief liegenden Wiesen des Platzes bauen. Doch während des Baumoduls ging die Arbeit an der neuen eigenen Heimat zügig voran und schnell wurden die neue Außenküche auf Stelzen und wärmende Feuerstelle zum Gemeinschaftsmittelpunkt.

Eintrag aus Jonas Tagebuch: „’Regen klingt ab’, sagt mein Newsfeed, der mir neuerdings in der rechten unteren Ecke meines Laptops angezeigt wird. Hat einen seltsamen Humor, dieser Newsfeed. Regen klingt ab, und Regen klingt auf. Gerade macht mir der seit Tagen andauernde Regen ziemlich zu schaffen. Ich mag Regen, ja, ich liebe es, unter dem Geräusch prasselnder Regentropfen zu liegen, zu kuscheln, einzuschlafen, Tee zu trinken, zu schreiben, kreativ zu sein. Ich liebe tanzen im Sommerregen, ich mag Regenspaziergänge, ich mag manchmal auch Weltuntergangsstimmung. Aber hier, so im Leben draußen, im permanenten dem-Wetter-ausgesetzt-sein, da zehrt das doch gewaltig an meiner Kraft. Scheinbar habe ich bisher recht gut vor Natureinwirkungen geschützt gelebt. Dieses Jahr war ich bisher so viel draußen wie noch nie. Draußen sein ist toll, und draußen sein ist so anstrengend. Ich habe absolut unterschätzt, wie viel Energie damit drauf geht, für die Infrastruktur und die Erfüllung von Grundbedürfnissen zu sorgen. Seit Freitag kann ich nicht mehr in meinem Zelt sein, weil es unter Wasser steht. Dafür muss ich erst einen Holzboden bauen. Kalt ist es auch. Irgendwer hat behauptet, es wäre gerade Sommer. […]

Was hier passiert ist

Wer dachte, so ein Sommercamp wäre eine amüsante Abwechslung vom Corona-Stubenhocken oder bediente wildromantische Outdoorphantasien, wurde leider enttäuscht. Anpacken war angesagt, und das in vielerlei Hinsicht: Wir haben eine Schichtholzhecke angelegt, zusammen eine Wohninfrastruktur mit viel Frischluft aufgebaut, als Sommergruppe in bunter Mischung drei Monate zusammen gelebt, unterschiedliche Entscheidungsfindungsprozesse ausprobiert und ausprobieren müssen, viele (lange) Orga-Runden und Gruppenprozesse gemacht, Struktur geschaffen (und wieder über Bord geworfen), uns in Befindlichkeitsrunden, Sharings, Dyaden und Kleingruppen ausgetauscht, (radikal) ehrliches und authentisches Mitteilen geübt, einander Feedback gegeben, gemeinsam gekocht, unfassbar viele Liter Wasser über die Wiese getragen, gesungen und Musik gemacht, Besucher*innen eingeladen, Löffel geschnitzt, in der Sonne gelegen und dem Regen getrotzt, versucht, ganz unterschiedliche Bedürfnisse unter einen Hut zu bekommen, gelacht, Frustration und Langeweile ausgehalten, getanzt und gefeiert…

Eintrag aus Jonas Tagebuch: „Ich fühl mich blockiert, gelähmt, gebremst. Mir ist einfach langweilig. Aus Langeweile entstehen coole Dinge, das predige ich doch selber oft. Und ich hab auch schon oft gesagt, ich hätte schon sehr lange keine Langeweile mehr verspürt, und dass ich mich danach sehne und so. Was für ein blödsinniges Gelaber, Langeweile fühlt sich echt ätzend an. Diese Antriebslosigkeit, diese Lustlosigkeit, Trägheit, grünbraungrauer matschiger Sumpf. Wie lange muss ich die Langeweile aushalten, damit von innen heraus wieder Energie und Kreativität entsteht?“

Es gab auch Zeiten mit dichtem Programm: Wir-Prozesse, Forum, Männer- und Frauenkreise, gehaltene Räume für Austausch über Liebe, Sexualität und Beziehung, ein „Visions-Café“ und Runden zu konkreten nächsten Schritten der Einzelnen, Mentor*innengespräche, eine Woche zum Thema „Lernen von Innen,“ eine Flake (eine analoge Multisharing-Plattform), viele Lagerfeuer, Dorfbegegnungen, Pizza aus dem Pizzaofen, Sauna und Hot Tub, Sport und Tanzangebote, ein wenig Zirkusschule und manchmal Sonntags Kuchen im Dorf-Café…

Jona: „Ich bin hier echt oft glücklich. Manchmal kommt das altbekannte Gefühl über mich, ich wäre noch nicht am Ziel, und dieser Gedanke von „jetzt ist es noch nicht gut, aber irgendwann in der Zukunft wird es dann gut“. Und manchmal finde ich es so im Jetzt richtig gut. Da laufe ich dann über die Wiese, komme vielleicht gerade aus der Dusche, genieße das Gefühl sauber zu sein, gehe auf unser Camp zu, spüre den Wind durch meine Haare wehen, sauge den Sommerduft ein, höre die Grillen zirpen und staune freudig über die Schönheit dieses Platzes. Da weiß ich dann, dass ich gerade genau am richtigen Ort bin, und dass ich mein Leben gerade richtig cool finde.“

Ein definitives Highlight war das Gemeinschaftscamp zum Thema „Ganz ICH sein im WIR“, welches die 3-Monatsgruppe mit organisiert hat. Eine der berührendsten Erkenntnisse, die einige Teilnehmer*innen hervorgehoben haben, war die Erfahrung, wie tief verbindend wirklich ehrliche Kommunikation sein kann. Das vielleicht schönste Fazit in der Abschlussrunde war von Christian:

Unsere Vision für das Camp war Liebe. Und die ist da!“

Zukunftspläne

Das diesjährige Camp wird seinen Abschied am 26.9. 2021 feiern und die Camptore schließen. Wie es nächstes Jahr weitergeht, steht noch nicht fest. Im Oktober trifft sich das Entwicklungsteam der OW für eine Auswertung und für die weitere Planung. Im Gespräch sind als Möglichkeiten für nächstes Jahr weitere Begegnungs- und Orientierungscamps, eine mehrmonatige Orientierungszeit mit intensiver „Lebensschule“ oder sogar die Entstehung eines „jungen Dorfes“ mit Anbindung an die Tempelhof-Gemeinschaft. Wir suchen weiter nach einer Möglichkeit, junge Menschen auch über den Winter beherbergen zu können.

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