Autorin: Simone Britsch

Rechtsruck und Politikverdrossenheit – es geht um die brennend aktuelle Frage, wie eine lebendige Demokratie entwickelt werden kann, als sich am 15. September zum „Internationalen Tag der Demokratie“ 60 Gäste einfinden. Auf dem Podium im Ökodorf Sieben Linden LINK: https://siebenlinden.org/de/ sitzt u.a. Christian Felber, Initiator der Gemeinwohl-Ökonomie. Ebenso wie unser Netzwerk GEN steht die Gemeinwohl-Ökonomie für eine partizipatorische Kultur und für echte Demokratie. Diese Bewegungen sind Praxisbeispiele in denen Menschen üben, sich einzubringen, konstruktive Debatten zu führen und Kompromisse zu finden.

Der Beginn der Veranstaltung ist ebenso kreativ wie unerwartet: Eine akrobatische Performance Link: https://www.youtube.com/watch?v=WuIC0M6LXRw von Lorena Castro und Christian Felber stellt einige die Prinzipien der Gemeinwohl-Ökonomie auf der Bühne dar: Begrenztes Wachstum, Wirtschaften in Kreisläufen und Kooperation. Die eingeladenen Expert:innen Christian Felber, Grit Hallal, Gabriele Bayer und Roland Budz kommen aus dem Umfeld der Gemeinwohl-Ökonomie. Die Gemeinwohl-Ökonomie beinhaltet als Alternative zum Kapitalismus starke partizipatorische Prinzipien. Das Mitwirken von Mitarbeitenden in Betrieben, von Mitgliedern in Vereinen, von Bürger:innen in Kommunen ist unerlässlich, wenn es künftig wieder um das Wohl der Allgemeinheit, der Natur und unserer Enkel:innen und nicht mehr um eine übersteigerte Form von Wirtschaftswachstum und Gewinnanhäufung gehen soll.

Christian Felber, Politikwissenschaftler, Sozialwissenschaftler und Autor aus Wien hat die Gemeinwohl-Ökonomie vor 14 Jahren initiiert, um eine Transformation der Wirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit und Abbau der sozialen Ungleichheiten anzustoßen. „Heute ist ein großes internationales Netzwerk daraus entstanden, das sich ständig erweitert. In Regionalgruppen, Firmen, Kommunen, an Hochschule und anderen Bildungseinrichtungen sind über 5000 Menschen aktiv. Mehr als 1300 Gemeinwohl-Zertifizierungsverfahren konnten bereits abgeschlossen werden, bekannte Beispiele sind die Firma Voelkel, Vaude und Sonnentor.“ Christian Felber betont, dass seiner Ansicht nach die meisten Menschen eine Veränderung der Wirtschaftsweise wünschen, weil sie merken, dass ungebremster Kapitalismus nur wenigen nützt und gleichzeitig die Natur ausbeutet. Es braucht neue demokratische Wege, um diese Bürger:innen-Meinung in der Politik zur Umsetzung zu bringen. Er selbst ist ein Befürworter von Elementen der direkten Demokratie wie Volksabstimmungen und Bürgerentscheide.

Aus Postbauer-Heng, einer Gemeinde in Bayern, bringt Gabriele Bayer als Dritte Bürgermeisterin Beispiele aus einer gemeinwohlorientierten Kommune mit. Sie berichtet über Prozesse mit starker Beteiligung aller kommunalen Akteur:innen, die das Gemeinwohl der Bürger:innen in den Mittelpunkt stellen wollen. Bayer betont die Notwendigkeit einer guten, wertschätzenden Kommunikation, um solche Transformationen in einer Gemeinde ins Rollen zu bringen. Die Innovationen in Postbauer-Heng werden sichtbar in einer Verkehrsplanung mit Schwerpunkt auf den ÖPNV, einem verpflichtenden Bio-Anteil in der Verpflegung in Kindergärten und Schulen, und auch in den Beschaffungskriterien. „Die Leitfrage der Beschaffungsrichtlinie der Gemeinde Postbauer-Heng lautet nun: Dient unser Einkauf, die Vergabe der Aufträge usw. der Umwelt, den Menschen und ist es sie zukunftsfähig?“, so die Dritte Bürgermeisterin. Im Anschluss an die Podiumsdiskussion führt Gabriele Bayer in einem gut besuchten Workshop näher aus, wie auch Bürger:innenbeteiligungsverfahren nun einen besonderen Stellenwert in Postbauer-Heng erhalten.

Als gebürtige Potsdamerin ermuntert Grit Hallal vom Podium aus die Zuhörenden, sich gesellschaftlich für ein anderes Wirtschaftssystem und die Erneuerung der Demokratie einzusetzen. Sie erinnert als Zeitzeugin der Wende und ehemals aktive Demonstrantin daran, dass Bürger:innen eine Macht haben. Mit dem jetzigen Wirtschaftssystem und seinen Ungleichheiten ist Grit Hallal nicht zufrieden, da Art. I und II des Grundgesetzes – die Menschenwürde ist unantastbar – während der Arbeit bis heute nicht garantiert seien.Als Unternehmerin hat sie in Selbstverwaltung mit Bürger:innen einen Gemeinwohl-Bioladen als Test- und Trainingscenter betrieben. Sie berät Unternehmen und Kolleg:innen, die sich für alternatives Wirtschaften und für „New Work“ interessieren. Aus ihrer Erfahrung berichtet sie: „Wer sich als Betrieb auf den Weg der Gemeinwohl-Ökonomie macht, muss keinen Fachkräftemangel fürchten. Die Leute suchen nach attraktiven Arbeitsplätzen, wo sie Sinn in ihrer Tätigkeit finden und mitbestimmen können.“ Vor allem im Zusammenspiel mit gemeinwohlorientierten Kommunen, Städten und Unternehmen sieht die studierte Ökonomin gute Chancen dafür, dass mit der Gemeinwohl-Ökonomie Abwanderungstrends, zum Beispiel aus der Altmark, umgekehrt werden können.

Wie ein Ökodorf mit der Gemeinwohl-Ökonomie koorespondiert, beschreibt Roland Budz, der als Doktorand im Bereich Wirtschaftsdemokratie auch die Gemeinwohl-Ökonomie untersucht. Ihn haben die Theorie sowie die Praxis-Beispiele überzeugt, sich zum Gemeinwohl-Ökonomie-Berater ausbilden zu lassen. Seine erste Gemeinwohl-Unternehmenszertifizierung im Rahmen der Qualifikation zum GWÖ-Berater führt er am Beispiel einer Organisation innerhalb des Ökodorfes Sieben Linden durch. Das Ökodorf durchleuchtet derzeit in einem partizipatorischen Prozess aller Mitarbeitenden seinen Bildungsbetrieb mit Tagungshaus nach den Kriterien der Gemeinwohl-Ökonomie und hofft, Ende des Jahres das entsprechende Zertifikat zu erhalten. Am heutigen Tage wünscht sich das Ökodorf noch ein wenig Rückenwind, um die recht aufwändigen und arbeitsintensiven Arbeiten, die im Rahmen des Audits verlangt werden, in den kommenden Wochen abzuschließen. „Wir haben bei der Zertifizierung entdeckt, dass viele Prinzipien der Gemeinwohl-Ökonomie sich in Sieben Linden und in allen GEN-Gemeinschaften bereits wiederfinden“, so Moderatorin und GWÖ-Aktive Simone Britsch aus Sieben Linden. „Besonders die Beteiligung und das Mitspracherecht aller Betroffenen und Akteure wird in beiden Ansätzen gleichermaßen umgesetzt.“

Simone Britsch resümiert: „Die Gemeinwohl-Ökonomie ist eine nachhaltige und partizipative Form der Politik, die die Menschen ernst nimmt und einbindet. Genau das braucht es in dieser schwierigen Zeit.“ Sie schließt die Veranstaltung mit einem musikalischen Audio-Beitrag, der gut zum heutigen „Internationalen Tag der Demokratie“, den die Generalversammlung der UN bereits im Jahr 2007 für den 15. September ausgerufen hat, passt. Sie macht darauf aufmerksam, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist. Sie meint, dass die Demokratie auch hierzulande erneuert werden muss, wenn wir das Ruder nicht an rechtsextreme Parteien abgeben wollen. Das „Liebeslied an die Demokratie“, das der Sieben Linden-Mitbegründer Dieter Halbach, der mittlerweile in Brandenburg im Umfeld der Gemeinschaft ZEGG lebt, aus aktuellem Anlass vor den dortigen Landtagswahlen komponiert hat, ist ein nachdenklicher Ausklang: „Wir sind die Erben der Freiheit, wir sind die Verschiedenen … . Du bist einzigartig und du bist frei geboren, deine Würde ist unantastbar, sei ein Mensch – mitten im Wahnsinn.“

Hier die vollständige Podiumsdiskussion als Video auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=ITEkExY5UZQ

Mehr zur Gemeinwohl-Ökonomie: https://germany.econgood.org/

Christian Felber: https://christian-felber.at

Faire Beschaffung mit Augenmaß in Postbauer-Heng: https://skew.engagement-global.de/im-fokus-detail/florian-beyer-im-interview.html

Kommune Postbauer-Heng: https://www.postbauer-heng.de/rathaus-service-zukunft/willkommen-im-markt/gemeinwohl-gemeinde/#accordion-1-2

Grit Hallal: https://www.grit-hallal.de/

Liebeslied für die Demokratie auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=6DKOz4IgZC0

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