Hold me, never let me go

Hold me, hold me, never let me go,
like the leaves at the end of the branches.
And when I die, let me fly, let my fly
through the air like the leaves that are falling.

Nina Wise, www.stimmvolk.ch/hold-me

Thomas Waldhubel

17.9.1950 – 30.10.2021

In den frühen Morgenstunden des 30. Oktobers ist Thomas im Krankenhaus in Schwäbisch Hall friedlich eingeschlafen. Damit hatte keiner von uns gerechnet, auch wenn aufgrund seiner schon länger dauernden Krankheit und einer anstrengenden Therapie sein Körper in den letzten Monaten und Wochen sehr schwach geworden war. Thomas hatte diese körperliche Entwicklung mit großem Gleichmut angenommen und sein Interesse weiterhin auf das Geschehen in der Gemeinschaft, in der Welt und auf die Zukunft ausgerichtet. Zwei Tage vor seinem Tod hatte er sich noch den Zugangslink zur diesjährigen Zukunftskonferenz schicken lassen, die er gedanklich mitentwickelt hatte, um vom Krankenhaus aus daran teilzuhaben. Das war ihm dann nicht mehr möglich.

Obwohl er nicht wusste, ob es auch sein Zuhause noch würde, hat er die letzten eineinhalb Jahre zusammen mit 4 anderen TempelhoferInnen ein Wohnbauprojekt angepackt und mit seiner Geduld, Beharrlichkeit, seiner integrierenden Kraft und all seinen sozial-kommunikativen Fähigkeiten das Projekt soweit gebracht, dass wir nun tatsächlich damit rechnen können, dass der erste Wohnneubau am Tempelhof entstehen wird. Ein Vorhaben, das uns in 11 Jahren nicht gelungen war.

Das war typisch für Thomas: Der ganzen Sache dienen, sich selbst zurücknehmen, Entwicklungen anstoßen und begleiten. Ganz viel geben. Er war gleich in den Anfängen des Tempelhofes zur Gemeinschaft gestoßen, hat sie von Anfang an mitgeprägt und für die innere Entwicklung wichtige Impulse gesetzt. Unvergessen der von ihm gestaltete Prozess der Wohnraumfindung: Über 40 Menschen, die sich meist noch nicht kannten, sollten sich auf die vorhandenen (nicht besonders schönen) Wohnräume verteilen, als Wohngruppen zusammenfinden und die wenigen Einzimmerapartments untereinander verteilen. Und das an einem halben Tag. Ein voller Erfolg! Unvergessen auch der legendäre Innere Entwicklungskreis, der aus einer ersten Gemeinschaftskrise heraus entstanden war und sich im ersten Jahre täglich eine Stunde getroffen hatte, um daraus Entwicklungsimpulse zu setzen, soziale Räume zu gestalten, aber auch einzelne Mitglieder der Gemeinschaft zu begleiten. Thomas mit seinem Beharren auf Verbindlichkeit und Klarheit – manchmal konnte er da auch recht streng sein – war hier eine tragende Kraft. Als Moderationsprofi, als Coach und Supervisor hat er unzählige Plenen moderiert, Teamprozesse begleitet, Konfliktgespräche geführt, einzelne Menschen beraten, begleitet und gefördert. Ihn gleich in den turbulenten Anfängen der Gemeinschaft dabei zu haben, als noch niemand so recht wusste, wie Gemeinschaft geht, war ein echter Glücksfall!

Sein gemeinschaftliches Wirken reichte über den Tempelhof hinaus. Seine Erfahrungen flossen in den ersten Jahren in unsere gemeinschaftsbildenden Workshops und in die Beratung anderer Gemeinschaften ein. Er gehörte zu den Gründern von GEN Deutschland und gestaltete als einer der Vorstände den Anfang dieses Netzwerkes mit. Sehr berührt war er von jungen Menschen, die sich als Aktivisten oder Gemeinschaftsgründerinnen aktiv für ihre Zukunft einsetzen, diese unterstütze er nach seinen Möglichkeiten, ob unserer Gemeinschaft oder in anderen. In den letzten Jahren hatte er sich aus seinen aktiven raumhaltenden Rollen etwas herausgenommen und wurde mehr und mehr zum beobachtenden, impulsgebenden Begleiter.

Thomas war ein hinterfragender „Gründler“ und damit so etwas wie eine intellektuelle, moralische und spirituelle Instanz in unserer Gemeinschaft. Er setzte Themen, stellte in die Tiefe führende Fragen, ging den Dingen auf den Grund, verfasste zu vielen unserer Themen lange Texte mit vielschichtigen Argumenten, hinterfragte scheinbar sichere Annahmen. Ihm konnte man nicht mit leicht hingeworfenen Aussagen oder egokaschierenden scheinbaren Sachargumenten kommen. Je nach Naturell seines Gegenübers wurde dies als Bereicherung oder als nervende Zumutung empfunden. Ja, er konnte recht unbequem sein und wenn es ihm selber nicht so gut ging, kam auch mal eine nörglerische Seite an ihm zum Vorschein. Immer aber war Thomas, wenn man ein wesent-liches, ein inspirierendes Gespräch suchte, die richtige Adresse, auch und gerade für jüngere Menschen. Ihn bei Entscheidungen dabei zu haben, gab eine gewisse Sicherheit, dass alles Wesentliche bedacht war.

Am unerbittlichsten war er wohl mit sich selbst. So viel er sich in die Gemeinschaft hineinverschenkt hatte, so schwer fiel es ihm, sich der Gemeinschaft mit seinem Befinden zuzumuten oder sich persönlich nahbar zu machen. „Es braucht die richtige Distanz, um ihm nahe zu sein“ – so hatte es eine ihm nahestehende Freundin aus der Gemeinschaft ausgedrückt. In Gemeinschaft SEIN, ohne zu leisten, und es sich dabei gut gehen zu lassen – das war seine Herausforderung und Suche der letzten Jahre, die ihn in eine persönliche Krise geführt hatte. In dieser Zeit sind ihm vor allem Begeg-nungen mit anderen Männern wichtig geworden. Wir haben zum Ende hin einen gewandelten Thomas erlebt. Nach einem Aufenthalt bei den Krisenfreunden spricht er zu seinen Freunden von seiner Seins- Erfahrung: “Die Sonne auf der Haut spüren, einfach Dasein, die Milde und Freude im Jetzt genießen, durch die Schönheit des Lebens den Ausstieg aus dem Überlebenskampf finden“. Auf einer Fahrt ins Krankenhaus wenige Wochen vor einem Tod stellt er fest: „Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach ist, Hilfe zu erbitten und zu bekommen“. Und eines der letzten Bilder, die wir im Gedächtnis behalten werden, ist ein Thomas, dem bei dem Lied “Hold me, hold me, never let me go….“ in großer Runde die Tränen fließen und der dies, den Kopf an die Schulter einer daneben sitzenden Freundin gelehnt, geschehen lässt.

Thomas war ein Mensch mit vielen Facetten – ein Genießer, der ungeniert seinen Teller in aller Öffentlichkeit ableckte, wenn es ihm geschmeckt hatte und ein nobler Herr. Ein Ernster und ein Clown (von dem wir gerne noch mehr gesehen hätten). Ein Strenger und ein einfühlsam Nachsichtiger. Ein Intellektueller und ein spiritueller Sucher.

Ein Freund. Ein Vater und Großvater.

Er hinterlässt nicht nur den Wohnturm, Rosenbüsche in unseren Beeten, Bücher über Bücher, sondern auch viele „Bewusstseinsspuren“ und wird so in uns weiter lebendig bleiben als „Innerer Waldhubel“.

MarieLuise Stiefel
für die Gemeinschaft Schloss Tempelhof

PS: Die öffentliche Abschiedsfeier mussten wir wegen der Verordnungslage ins Frühjahr verschieben. Wer sich Thomas verbunden fühlte und daran teilhaben möchte, kann sich gerne bei Angelika Grün melden (info@well-quell.de).

Titelbild von Bruno Ramos Lara | Unsplash

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